Wie funktioniert die Regierungsbildung nach der Nationalratswahl?
Die Nationalratswahl 2024 in Österreich hat zu einem historischen Ergebnis geführt: Zum ersten Mal ist die FPÖ als stärkste Partei aus einer Nationalratswahl hervorgegangen. Doch was passiert jetzt eigentlich nach der Wahl? Wie wird in Österreich eine neue Regierung gebildet? Dieser Artikel erklärt Schritt für Schritt den Prozess der Regierungsbildung - von der Stimmenauszählung bis zur Angelobung der neuen Bundesregierung.
Das Wahlergebnis liegt vor - was nun?
Zunächst einmal muss das endgültige Wahlergebnis feststehen. Am Wahlabend selbst gibt es nur ein vorläufiges Ergebnis. Die Auszählung aller Stimmen, inklusive der Briefwahlstimmen, dauert in der Regel einige Tage. Am 3. Oktober 2024 hat das Innenministerium das Endergebnis veröffentlicht. Demnach erhielt die FPÖ 28,85% der Stimmen, gefolgt von der ÖVP mit 26,27% und der SPÖ mit 21,14%.
Am 14. Oktober wird das Wahlergebnis dann von der Bundeswahlbehörde amtlich bestätigt. Erst dann steht auch endgültig fest, welche Abgeordneten ein Mandat im neuen Nationalrat erhalten haben.
Der Bundespräsident kommt ins Spiel
Nach der amtlichen Bestätigung des Wahlergebnisses beginnt die eigentliche Phase der Regierungsbildung. Hier spielt der Bundespräsident eine wichtige Rolle. Er erteilt üblicherweise dem Vorsitzenden der stärksten Partei den Auftrag zur Regierungsbildung. In diesem Fall wäre das der FPÖ-Vorsitzende.
Der Bundespräsident ist dabei aber nicht an starre Regeln gebunden. Er kann theoretisch auch eine andere Person mit der Regierungsbildung beauftragen, wenn er der Meinung ist, dass diese bessere Chancen auf eine stabile Regierungsmehrheit hat. In der Praxis wird aber fast immer der Vorsitzende der stärksten Partei beauftragt.
Sondierungsgespräche beginnen
Mit dem Auftrag des Bundespräsidenten in der Tasche beginnt der Parteichef der stärksten Partei nun mit Sondierungsgesprächen. Das sind erste, unverbindliche Gespräche mit den anderen Parteien. Dabei wird ausgelotet, mit wem eine Zusammenarbeit grundsätzlich möglich wäre.
Die Sondierungsgespräche sind noch keine konkreten Koalitionsverhandlungen. Es geht vielmehr darum, Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den politischen Positionen zu finden. Am Ende der Sondierungen entscheidet sich dann, mit welcher Partei oder welchen Parteien man in echte Koalitionsverhandlungen eintreten möchte.
Von Sondierungen zu Koalitionsverhandlungen
Haben sich zwei oder mehr Parteien dafür entschieden, eine gemeinsame Regierung bilden zu wollen, beginnen die eigentlichen Koalitionsverhandlungen. Diese sind deutlich detaillierter und konkreter als die Sondierungsgespräche.
In den Koalitionsverhandlungen geht es darum, ein gemeinsames Regierungsprogramm für die nächsten Jahre auszuarbeiten. Dabei müssen oft schwierige Kompromisse gefunden werden. Schließlich haben die verschiedenen Parteien ja unterschiedliche Wahlprogramme und Positionen.
Neben dem Regierungsprogramm wird in den Koalitionsverhandlungen auch die Verteilung der Ministerposten ausgehandelt. Welche Partei bekommt welches Ministerium? Wer wird Bundeskanzler, wer Vizekanzler?
Das Koalitionsabkommen steht
Wenn sich die Verhandlungspartner auf ein gemeinsames Regierungsprogramm und die Verteilung der Ministerposten geeinigt haben, wird ein Koalitionsabkommen unterzeichnet. Dieses Abkommen ist zwar rechtlich nicht bindend, hat aber eine hohe politische Bedeutung. Es legt den Fahrplan für die Regierungsarbeit der nächsten Jahre fest.
Der Bundespräsident ernennt die neue Regierung
Steht das Koalitionsabkommen, schlägt der mit der Regierungsbildung Beauftragte dem Bundespräsidenten die neue Regierungsmannschaft vor. Der Bundespräsident ernennt dann offiziell den Bundeskanzler und auf dessen Vorschlag die weiteren Mitglieder der Bundesregierung.
Theoretisch könnte der Bundespräsident die Ernennung einzelner Minister auch ablehnen. In der Praxis kommt das aber so gut wie nie vor. Der Bundespräsident respektiert in der Regel den Willen der gewählten Volksvertreter.
Die neue Regierung stellt sich dem Nationalrat vor
Nach der Ernennung durch den Bundespräsidenten muss sich die neue Bundesregierung dem Nationalrat vorstellen. Der Bundeskanzler präsentiert dabei das Regierungsprogramm.
Der Nationalrat hat zwar kein formelles Recht, die neue Regierung zu bestätigen oder abzulehnen. Er kann aber jederzeit der gesamten Regierung oder einzelnen Ministern das Misstrauen aussprechen. In diesem Fall müsste die Regierung bzw. der betroffene Minister zurücktreten.
Wie lange dauert eine Regierungsbildung?
Die Dauer der Regierungsbildung ist nicht festgelegt und kann stark variieren. Im Durchschnitt dauerte es seit 1979 etwa 61 Tage von der Nationalratswahl bis zur Angelobung einer neuen Regierung. Es gab aber auch schon deutlich längere Phasen der Regierungsbildung.
Bis eine neue Regierung steht, bleibt die bisherige Regierung geschäftsführend im Amt. Sie führt die Amtsgeschäfte weiter, trifft aber in der Regel keine weitreichenden politischen Entscheidungen mehr.
Besonderheiten der aktuellen Situation
Die aktuelle Situation nach der Nationalratswahl 2024 ist in mehrfacher Hinsicht besonders:
1. Erstmals ist die FPÖ stärkste Partei geworden. Das stellt die anderen Parteien vor die Frage, ob sie mit der FPÖ koalieren wollen oder ob sie versuchen, eine Koalition ohne die stärkste Partei zu bilden.
2. Die Zersplitterung des Parteiensystems macht die Regierungsbildung schwieriger. Für eine Mehrheit im Nationalrat sind mindestens drei Parteien nötig, wenn man die FPÖ nicht einbezieht.
3. Zwischen einigen Parteien bestehen große inhaltliche Differenzen, was die Kompromissfindung erschwert.
Diese Faktoren könnten dazu führen, dass die Regierungsbildung dieses Mal länger dauert als üblich. Es ist sogar denkbar, dass am Ende keine stabile Mehrheit zustande kommt und Neuwahlen notwendig werden.
Historischer Rückblick: Besondere Wahlen und Regierungsbildungen
In der Geschichte der Zweiten Republik gab es immer wieder besondere Situationen bei Nationalratswahlen und Regierungsbildungen:
- 1970 bildete Bruno Kreisky eine SPÖ-Minderheitsregierung, die von der FPÖ toleriert wurde. Es war die erste und bisher einzige Minderheitsregierung in Österreich.
- 1999/2000 kam es zur ersten ÖVP-FPÖ-Koalition unter Wolfgang Schüssel, obwohl die ÖVP nur drittstärkste Partei war. Diese Regierung führte zu diplomatischen Spannungen mit anderen EU-Staaten.
- 2019 wurde erstmals in der Geschichte der Zweiten Republik eine amtierende Bundesregierung durch ein Misstrauensvotum des Nationalrats abgesetzt.
- Von Juni 2019 bis Januar 2020 regierte eine Expertenregierung unter Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein. Es war die erste Regierung Österreichs, die sich nicht auf eine Parteikoalition stützte.
Diese Beispiele zeigen, dass die österreichische Verfassung durchaus Spielraum für ungewöhnliche Lösungen lässt, wenn die politische Situation es erfordert.
Die Regierungsbildung - Ein komplexer, aber flexibler Prozess
Die Regierungsbildung in Österreich ist ein komplexer Prozess, der viel Verhandlungsgeschick und politisches Fingerspitzengefühl erfordert. Er bietet aber auch die Flexibilität, auf besondere politische Konstellationen zu reagieren.
In den kommenden Wochen wird sich zeigen, wie die Parteien mit dem Wahlergebnis von 2024 umgehen und welche Koalition am Ende die Regierungsgeschäfte übernehmen wird. Eines ist sicher: Es werden spannende Wochen der politischen Verhandlungen, die die Zukunft Österreichs für die nächsten Jahre maßgeblich beeinflussen werden.
Glossar: Wichtige Begriffe zur Nationalratswahl und Regierungsbildung in Österreich
1. Nationalratswahl: Die Wahl des österreichischen Parlaments, die alle fünf Jahre stattfindet.
2. Vorläufiges Wahlergebnis: Das am Wahlabend verkündete Ergebnis, das noch nicht alle Stimmen berücksichtigt.
3. Endergebnis: Das offizielle Wahlergebnis nach Auszählung aller Stimmen, einschließlich Briefwahlstimmen.
4. Bundeswahlbehörde: Die für die amtliche Bestätigung des Wahlergebnisses zuständige Instanz.
5. Bundespräsident: Erteilt den Auftrag zur Regierungsbildung, meist an den Vorsitzenden der stärksten Partei.
6. Sondierungsgespräche: Erste, unverbindliche Gespräche zwischen Parteien zur Auslotung möglicher Koalitionen.
7. Koalitionsverhandlungen: Detaillierte Verhandlungen zur Bildung einer Regierung und Erstellung eines Regierungsprogramms.
8. Koalitionsabkommen: Vereinbarung zwischen den Regierungsparteien über das gemeinsame Regierungsprogramm.
9. Angelobung: Offizielle Ernennung der neuen Regierung durch den Bundespräsidenten.
10. Misstrauensvotum: Möglichkeit des Nationalrats, die Regierung oder einzelne Minister abzusetzen.